Die Weisheiten der Heiligen Noiona

Die Weisheiten der Heiligen Noiona
Boronkloster „Sancta Noiona della Quiescosa“, Tikalen, Liebliches Feld,

Anfang Tsa 1042 BF

 

Mit gemischten Gefühlen verabschiedete sich Coris Etiliane Fesslin, die Weidener Borongeweihte, von ihrem Glaubensbruder Bishdaryan von Tikalen, der seinen Weg über Methumis nach Al' Anfa fortsetzen wollte. Gemeinsam mit dem Noioniten hatte sie eine Aufgabe bewältigt, die ihnen bei den Geschehnissen rund um die Feierlichkeiten anlässlich der Hadrokles-Paligan-Spiele in Punin gestellt worden war. Diese hatte die beiden Diener der Ewigen zunächst nach Omlad geführt.

Beeindruckt war Coris immer wieder von Bishdaryans Sicherheit und Gewandtheit auf dem Parkett der Diplomatie. Er bewegte sich ebenso sicher zwischen all den Adeligen, Hochadeligen und der hohen Geistlichkeit wie in den schützenden Mauern des Klosters.

Auch danach, während ihrer gemeinsamen Zeit im Noionitenkloster von Tikalen, hatte sie viel von ihm gelernt. Sein Umgang mit den Verwirrten, der sich durch verständnisvolle Zuwendung ebenso auszeichnete wie durch Umsicht und eine gute Portion Misstrauen, das durchaus angebracht war, wie sich im Falle eines Verschwörers hinter den Zellenwänden erwiesen hatte.

Vater Bishdaryan hatte ihr mehr als nur die Grundlagen der Liturgie "Noionas Zuspruch" vermittelt. Es war ihm gelungen, in ihr noch weitere Fähigkeiten zu wecken, mit denen sie verwirrten Schutzbefohlenen Ängste nehmen konnte. Coris lernte von Bishdaryan die Seelenkranken zu beruhigen und besänftigen, ihre Einbildungen und Wahnvorstellungen zu lindern und bestehende Todesangst zu mildern. Außerdem vermittelte der Noionit seiner jungen Gefährtin im Glauben erste Kenntnisse darin, wie man Schlafstörungen und Alpträume behandeln konnte.

Die Äbtissin Tacita di Valese hatte Coris in gemeinsamen spirituellen Lehrstunden bei den Schutzbefohlenen des Klosters die "Salbung der Heiligen Noiona" gelehrt. Mit dieser würde die Etilianerin erkennen, wenn jemand von der Widersacherin aus der Späre der Dämonen besessen war. Und sie konnte versuchen, den Bann der Widersacherin (Thargunitoths) zu brechen, um die Seele des Besessenen vom dämonischem Zugriff zu befreien.

Coris wusste, dass sie die "Salbung der Heiligen Noiona" nur in der Grundstufe erlernt hatte und noch viel üben musste, um diese schwierige Liturgie erfolgreich ausführen zu können, doch war ein Anfang gemacht.

Nun aber trennten sich die Wege der beiden Borondiener und Gefährten auf Zeit. Bishdaryan musste weiterziehen. Seine kirchenpolitische Mission würde ihn bis nach Al' Anfa führen, Coris aber musste zurück nach Weiden.

Sie würde noch den gesamten Boron und Hesinde im Kloster Sancta Noiona della Quiescosa bleiben, die neuen Liturgien üben, die Spiritualität der Felsenklostergemeinschaft genießen und dann mit einem Händlerzug aus Tikalen nach Gareth gen Norden aufbrechen. Die Äbtissin hatte ihre Bezeichnung spielen lassen, um Coris eine sichere Heimreise zu ermöglichen. Ab den Greifenfurtschen Landen würde sie sich wieder neue Reisegefährten suchen müssen. Doch das sollte schon gelingen und so hoffte die Etilianerin, Ende Tsa wieder in ihrem Heimatkloster Etiliengrund zu sein.

Sie ließ sich von Bishdaryan noch einmal umarmen, fühlte den festen Stoff seiner Reiserobe an ihrer Wange und erwiderte den Druck, der Dankbarkeit und gegenseitige Wertschätzung zugleich ausdrückte. "Möge Boron seine segnende Hand über dich halten", hauchte sie. In der Tiefe ihres Herzens hoffte die Weidenerin, dass sich ihre Wege eines Tages wieder kreuzen würden.

Er erwiderte den Segenswunsch und löste sich von ihr. Der Noionit schenkte ihr einen seiner tiefen, weisen Blicke, die ihr so viel Vertrauen einflößten.

Sie schluckte schwer als er sein Pferd am Zügel griff und es in das schwarze Loch führte, das den Zugang zu dem langen Felsengang darstellte. Sogleich hatte dir Schwärze ihn verschluckt und sie blieb allein zurück auf der Terrasse des Felsenklosters der Heiligen Noiona della Quiescosa.