„Die Suche des Mephaliten-Aquisors zeigte unerwartet schnell Erfolg. Gleich bei seinem ersten Ausflug nach Leinhaus wurde Magister Egilmar fündig. Ein junges Mädchen von vielleicht neun Jahren hatte er in der elenden Siedlung entdeckt, in der die Leinläufer am Ufer des Pandlaril hausen.
Die Leinläufer wussten nur wenig über die Herkunft des Mädchens zu berichten, außer, dass sie es als Neugeborenes in der Nähe des Flussturms Raschützwall in der Stadtmark Baliho gefunden hatten, es mitgenommen und aufgezogen. Der Name des Kindes, Helea, sei in ein Segenstuch gestickt gewesen, wie es Kinder besser begüterter Eltern häufig in den Weidener Landen erhalten, sobald der Geburtssegen vollzogen wurde.
Ohne langes Federlesen brachte Magister Egilmar das Kind mit auf die Burg, um sich Helea etwas genauer zu widmen. Er schien recht beeindruckt von den Kräften des Mädchens, das auf mich allerdings sichtlich eingeschüchtert wirkte – was Wunder auch, wenn man sein ganzes Leben in einer Holzhütte am Fluss verbracht hat.
Natürlich fiel einer gewissen Bewohnerin der Burg recht schnell auf, dass eine neue Altersgenossin in den Mauern Flæcht-uf-stêns weilte. Und obwohl der Magister zunächst versuchte, Helea in einer Kammer einzuschließen, die er für diejenigen Kinder hatte herrichten lassen, die er finden würde, hatte die Baroness schon am Ende des Tages herzliche Freundschaft mit Helea geschlossen.
So fand ich die beiden auf dem Flur vor der Kammer an die Mauern der Feste gelehnt sitzen, einen Rest Hefezopf zwischen sich, in ein angeregtes Gespräch vertieft, das von häufigem Lachen unterbrochen war. Und das veränderte für Helea dann wohl alles. Avia suchte noch in der gleichen Stunde ihren Paten auf, meinen Schwertvater Arnôd Pratos von Grevenstein, und legte ihm ihre Wünsche dar. Und während das fremde Mädchen das ausgiebige Bad nahm, zu dem Avia sie verdonnert hatte, eilte sie hinüber zur Mühle der Magistra Scanlail, um diese um Rat zu bitten.
Ich wette, dass Helea sich vorkam wie in einem Traum. Denn anstatt in einer zugigen Kate in Leinhaus dünne Fischsuppe zu löffeln oder allein in einer Kammer auf den Magister und seine Examinatio zu warten, fand sie sich fortan am Tisch der Baroness im Rittersaal wieder. Und ich muss sagen, dass ich durchaus von dem Mädchen angetan war. Sie war nur einen Finger kleiner gewachsen als Avia und ebenso schlank und agil wie unsere Baroness. Ihr glattes Haar war von einem tiefen Dunkelbraun und ihre Augen funkelten in einem hellen Grau mit grünlichem Einschlag. Ich wette, dass diese Augen das Herz so manchen jungen Burschen brechen werden, ehrlich. Und man konnte sehen, was Kleidung aus Leuten macht. Einmal ihrer, kaum mehr als Lumpen zu nennenden, Kluft entledigt und mit einer einfachen weißen Cotte gewandet, wirkte sie gleich viel umgänglicher, vom Wesen her aufmerksam und voller Anteilnahme.
Im folgenden Monat wurden Avia und Helea unzertrennlich, kann man sagen, und das Findelmädchen weckte die besten Eigenschaften in unserer Baroness. Sie mühte sich Helea in aller Eile Lesen und Schreiben beizubringen, so gut sie es vermochte, und sogar einige Brocken Isdira und Bosparano, wie ich herausfand.
Immer wieder musste Helea sich langen Gesprächen und verschiedensten Prüfungen bei Magister Egilmar unterziehen, um zu entscheiden, für welche Akademie er sie vorschlagen würde. Manchmal war auch die Magistra Scanlail anwesend, seltener der Präzeptor Goldquell und einmal sogar die Dame Kitinkaja, die Vertraute meines Schwertvaters. Aber ich würde sagen, die beiden Mädchen verbrachten einen ausgelassenen Herbst miteinander, benutzten neckische Spitznamen füreinander und trieben sich häufig in Gesellschaft anderer Kinder der Burg oder der Stadt herum, eben so wie es sein sollte.
Bis eben der Tag nahte, als Magister Egilmar weiterziehen wollte und Helea mit den drei anderen magisch begabten Kindern nach Rommilys geschickt werden sollte, wo entschieden werden würde, welche Magierakademie der weißen Schule sie letztlich besuchen würde.
Herr Arnôd verabschiedete den Magister mit einem gebührenden Mahl, und unsere Baroness nutzte die Gelegenheit, um Helea zu verabschieden. Zu den Klängen der Musikanten tanzten die beiden Mädchen strahlend in den Sonnenuntergang. Und so brach Helea von Leinhaus am nächsten Tag auf, nicht nur mit einem soliden Wanderstab und Hirschfänger gewappnet, einen prall gefüllten Wachstuchbeutel an der Seite, sondern auch mit einer Ledertasche, die neben einem Vademecum und Schreibzeug mehrere gesiegelte Briefe an den Convocatus Gurvan enthielt, den Hochmeister der Mephaliten in Rommilys.“
—Erzählung der Knappin Revienna von Gobiansforst, Anfang Boron 1046 BF

„Meine Falkin,
ich habe meine Probatio bestanden!
So, jetzt aber. Entschuldige die lange Wartezeit, hier ist es zugegangen wie am Waschtag in Leinhaus, seit ich weiß, wohin es mich verschlagen würde. Und genau da bin ich jetzt auch endlich angekommen.
Ich kann Dir gar nicht genug dafür danken, dass Du mir das Lesen beigebracht hast, das war ein echter Lebensretter, möchte ich meinen. Und wie Du siehst, habe ich täglich an meiner Schrift geübt.
Aber das wollte ich gar nicht erzählen, ich bin jetzt in Gareth! Gareth, der riesigen Kaiserstadt im Zentrum der Welt. Gute Götter, da war ich noch nie vom Pandlaril weg und jetzt bin ich in Gareth.
Eine Woche habe ich hier als Probandin verbracht, also als jemand, der genau unter die Lupe genommen wird. Ich scheine mich ganz gut geschlagen zu haben, eine Magistra hat sich sogar zu einem 'cum laude' hinreißen lassen. Ich kann Dir sagen, dass ich mit Sicherheit nicht die Dümmste unter den Probanden bin, dafür aber eine, die am besten mit den Härten hier umgehen kann. Gestern hat man mich feierlich mit einer Handvoll anderer Neuer zur Elevin gemacht. So heißt das hier, wie Du ja schon vermutet hast. Hesinde sei Dank, habe ich die Bosparanostunden mit Dir genossen, ich wüsste sonst gar nicht, wo mir der Kopf steht. Da ist so ein Junge, ein Baroninnensohn aus dem Garetischen, wie er sagt, der kann das schon richtig gut. Leider ist er ansonsten ein absoluter Trottel, der es nicht mal vermag sich gescheit den Gürtel zuzuknoten. Hat ihm gleich einen Stockhieb eingebracht. Jetzt knotet eine Ritterstochter ihm den Gürtel, ziemlich erbärmlich das Ganze. Wir tragen jetzt recht schicke graue Leinenroben, die dem Strahlemann natürlich zu einfach und kratzig sind. Grundgütige hilf! Ich bin natürlich diejenige vom geringsten Stand hier und das wollen sie mich auch spüren lassen, meine Miteleven. Allerdings scheint kaltes Waschwasser sie ziemlich zu erschrecken. Einerlei, da werde ich mich schon behaupten, verlass Dich drauf! Ach ja, Du kannst der Magistra sagen, dass der Rohrstock mir jetzt schon richtig leicht von der Hand geht. Die Ritterstochter hat da ganz schön blöd aus der Wäsche geguckt. Leider erwarten die Magister jetzt, dass ich den ganzen Lehrstoff des Jahres nachholen soll, damit ich schon im Phex in die Secunda komme. Ich habe noch keine Ahnung, wie ich das hinbekommen soll.
Also, ich bin jetzt in der Tertia Elevia der Akademie Schwert und Stab. Die Lehrmeister und Studiosi sind ziemlich rabiat und der Ton ist recht rau, aber das ist nichts, was ich nicht abkönnte. Sollen die mal versuchen einen Aak im Gleichtakt gegen die Strömung zu ziehen, diese Weicheier. Sag der Magistra bitte auch, dass ihr Empfehlungsschreiben wirklich viel bedeutet hat. Ich schreibe ihr auch, wenn ich die ersten richtigen Lehrstunden hatte. Morgen will der Akademieleister, Spektabilität Saldor Foslarin uns Neue hier begrüßen, anscheinend haben viele regelrecht Schiss davor. Kann ich auch nur dankbar sein, dass die Magistra mich schon vorgewarnt hat, was da wohl auf mich zukommt. Eine der Lehrmeisterinnen stammt übrigens auch aus Weiden. Sie hat jetzt schon ein Auge auf mich geworfen, ich hoffe zum Guten. Jarlinde von Weißenstein-Pandlaril heißt sie, das klingt ja beinahe so wie der Kerl, der an Deiner Statt jetzt Graf in Baliho ist, oder? Kriege ich bestimmt noch raus.
Ich muss jetzt schließen, wir haben heute Dienst im Speisesaal. Morgen geht der Unterricht los, ich werde dann mehr berichten. Alle reden hier auch davon, wie prächtig das Erleuchtungsfest sein wird, auch davon will ich Dir gerne mehr schreiben. Muss jetzt aber los.
Deine Wasserflinke“
—Brief der Elevin Helea von Leinhaus an Baroness Avia Nordfalk von Moosgrund, datiert auf Mitte Hesinde 1046 BF

„Meine Wasserflinke,
ich habe die Kaiserin selbst getroffen! Rohaja von Gareth, kein Witz. Ich bin noch ganz aus dem Häuschen.
Ich durfte mit Arnôd nach Sankta Boronia reisen, um an den Gedenkfeierlichkeiten zum Vierteljahrhundertgedächtnisses der Schlacht an der Trollpforte teilzunehmen. Eine sehr bewegende Sache, bei der viele Veteranen vor Ort waren. Ich habe das Ungetüm selbst gesehen, in dem meine Mutter als Knappin gekämpft hat. Und ich bin mehr denn je davon überzeugt, wie sehr von Rondra gesegnet sie war, das zu überleben. Ich fühle mich ihr jetzt aber ein Stück weit näher und das ist gut so. Denn das hatten wir irgendwie gehofft. Ich habe zwar noch nicht alle Trauer abgestreift, aber immerhin glaube ich nicht mehr, dass mir meine Mütter entgleiten, weißt Du.
Und dann hat Arnôd mir plötzlich an einem Abend verkündet, dass er eine Audienz bei der Kaiserin erbeten hat. Man, was war ich aufgeregt. Sie ist eine beeindruckende Frau, unsere Kaiserin. Ich hätte ihr stande pede die Treue geschworen, ehrlich, wenn ich denn schon initiiert wäre.
Aber jetzt halt Dich fest, Elevin, ich werde Pagin am reisenden Kaiserhof. Schon im Winter des nächsten Jahres. Und weißt Du, was das Beste daran ist? Dann können wir uns in Gareth sehen, wenn der Hof den Winter über dort ist. Da freue ich mich riesig drauf!
Ansonsten hoffe ich, dass Deine Prüfung gut verlaufen ist und Du tatsächlich in vier Monden das geschafft hast, was sie von Dir verlangen – und jetzt in der Secunda Elevia bist.
Ansonsten mache ich langsam Fortschritte dabei, herauszufinden, wer Du wirklich bist. Ich hoffe schon sehr bald Greifgolda von Mersingen befragen zu können, ob sie vielleicht etwas Hilfreiches weiß. Immerhin ist sie die Ritterin von Raschützwall. Und sie war meiner Mutter Kanzlerin von Baliho, irgendetwas muss auf Räuharsch vermerkt sein.
Ich soll von deiner Pflegemutter in Leinhaus grüßen. Da der Pandlaril seit einiger Zeit die Reichsstraße II überspült hat, machen die Leinenläufer gerade richtig gute Geschäfte. Die Instandsetzung der Hütten der Leinläufer-Siedlung ist auch so gut wie abgeschlossen. Aber dazu schreibe ich beim nächsten Mal mehr.
Ich muss jetzt auch los, Arnôd hat entschieden, dass es Zeit wird, dass ich nicht nur mit Thaoriel übe, sondern auch mit ihm grundlegende Kampftechniken lerne. Ich hoffe, ich habe hinterher nicht so viele blaue Flecken wie Revienna, wenn sie mit Mutter gefochten hat. Lassen wir uns überraschen.
Dir Hesindes Segen und alles erdenklich Gute,
Deine Falkin“
—Brief der Baroness Avia Nordfalk von Moosgrund an die Elevin Helea von Leinhaus, datiert auf Anfang Rahja 1046 BF